Warum uns dieses Buch den Donnerhall der Zukunft hören lässt

Anne Gerlieb über das neue Buch „In Transformationsgewittern“ von Georg Milde

Huffington Post Deutschland, 12. März 2019

Hinter dem Atlantik wird die Zukunft gemacht: Vor knapp zehn Jahren zog es immer mehr deutsche Journalisten und Manager ins Silicon Valley, um bei Besuchen der dort ansässigen Internetunternehmen und Start-ups den Fortschritt zu erkunden und mit einer Blaupause der Welt von morgen zurückzukehren. Daraus entstanden viele Bücher wie Christop Keeses „Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt“. Was allesamt bewegt: Wie würde die Welt von morgen aussehen und worauf kommt es in der entscheidenden Phase der Transformation dorthin an?

Umso bezeichnender, dass Georg Milde bei gleicher Ausgangsfrage einen umgekehrten Ansatz wählte: Statt an die Westküste reiste er an die Ostküste der USA, wo er in New York und Washington das Zusammenwachsen von New und Old Economy beobachtete. Der Herausgeber des Berliner Magazins politik&kommunikation traf Softwareentwickler, Innovationsexperten und Elitestudenten, ebenso aber auch vermeintlich „Abgehängte“, die Rationalisierungsmaßnahmen zum Opfer gefallen waren, wie auch Regierungsinsider und Politiker.

Doch damit nicht genug: Drei Monate lang reiste er ununterbrochen um die Welt, von einer Metropole des Umbruchs zur nächsten, und das in 13 Ländern: vom Big-Data-Riesen China bis ins Herz des „Chancenkontinents“ Afrika, vom dynamischen indischen Subkontinent bis in die „Neue Welt“ Brasilien. Herausgekommen ist ein facettenreiches Buch, in dem der 42-Jährige mehr als 100 Menschen zu Wort kommen lässt: Erfolgreiche und Gescheiterte, mutige Innovatoren und im Verborgenen wirkende Unterdrückte.

Die Thesen, die Milde aus dem in den Laboren der Transformation Erlebten ableitet, haben es in sich. Er skizziert, wie sehr die Menschen sich häufig untereinander im Weg stehen oder einer dem anderen gar – frei nach Thomas Hobbes – ein Wolf ist: Viele sind geleitet von persönlicher Vorteilsnahme oder schotten ihre Gesellschaftsschicht gegen nachdrängende Aufsteiger ab. An vielen Stellen der Welt trifft er auf Streit – nicht zuletzt verstärkt durch die Sozialen Medien mit Hate Speech und Fake News. Neue Religionskonflikte, autoritäre Politiker und andere Beobachtungen am Wegesrand wirken zum Teil wie ein Donnern des Gewitters der Veränderung, das Milde immer wieder am imaginären Zukunftshimmel sieht.

Die zunehmend digitalisierte Welt verändert das Leben der Menschen jedoch an vielen Stellen zum Besseren, wie auch der Reisende immer wieder beobachtet: Digitalisierung kann gegen Korruption helfen, da sie in durch plötzlich transparente Verwaltungsverfahren die in vielen Ländern grassierende Alltagskorruption zurückdrängt. Durch die Schaffung digital registrierter Identitäten werden viele Menschen, vor allem Frauen in armen Landregionen, überhaupt erstmals gegenüber Staat oder Hilfsorganisationen als individuelle Person sichtbar – und nicht mehr nur als Anhängsel ihres Ehemanns oder Vaters. E-Learning kann unterprivilegierten Schichten erstmals Zugang zu besserer Bildung verschaffen.

Als Leserin seines Buches habe ich Milde als aufmerksamen Beobachter kennengelernt, der es schafft, sich abseits der weißen, europäisch-zentralistischen Perspektive den Eigenheiten der besuchten 13 Länder anzunehmen. Sehr intime Einblicke wie zum Beispiel in die Lebenswelt Ruandas: Auf das Gespräch mit einer jungen, studierten Kellnerin folgen die nüchternen Ausführungen zum Kongresszentrum und der menschenleeren „Kingali Innovation City“. Milde legt den Finger auf die Zukunftsvisionen und enttarnt manches als mögliche, zukünftige Wunde. Am Ende des Buches bin ich die wesentlich ausgeprägtere Zukunftsoptimistin als er. Doch es ist gut, dass es beide Sorten von Zukunftsbetrachtern gibt: die drängenderen Beschleuniger und die etwas skeptischeren Innehalter wie ihn, der trotzdem kein Pessimist ist – er rüttelt einfach nur ab und zu auch an den inneren Standpunkten des Lesers.

Zurück auf europäischem Boden zeigt Milde seiner Heimat Europa neben vielen anderen Beobachtungen den aus seiner Sicht notwendigen Weg auf: „Der Kontinent kann seine Chance nutzen, wenn die hier vorhandenen Vorteile gegenüber anderen Regionen stärker zur Geltung kommen. Ergänzt werden müssen diese durch neue Bildungszugänge in der Breite, europäische Spitzen-Forschungseinrichtungen nach US-Vorbild und einen digitalen EU-Binnenmarkt (‚European Cloud‘).“ Recht hat er damit, und auch deshalb ist sein Buch so lesenswert – weil es klare Haltungen zu wichtigen Themen von Algorithmen bis Zivilgesellschaft vertritt, die den Leser aber immer wieder zum Nachdenken über das Heute und Morgen bringen.

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